(Foto: Fabian Franke)

Lebenslanges Lernen – ein Konzept macht Schule in Ecuador

Wilter

Wilter

Ein paar Wochen sind vergangen. Die Stadt ist mir nun nicht mehr fremd, ich fühle mich wohl und die Arbeit macht Spaß. Neben vielen administrativen Aufgaben, einem Englischkurs und Presseterminen habe ich meine Aufgabe vor allem in der Erstellung eines Präsentationsfilms gefunden, der bei der Spenden- und Finanzakquise helfen soll. Das Bild des geballten Wissens in Buchform, das mich an meinem ersten Tag in der Druckerei so beeindruckt hat, ließ mich fortan nicht mehr los. Ich beschloss, mich auf den Weg zu machen und den Weg der Schulbücher zu verfolgen. Nun sitze ich in einem alten blauen Bus und fahre durch den nördlichen Stadtrand von Quito. Vorbei an dem großen Monument, das den Äquator markiert, in eine zuerst karge, staubige Felslandschaft und dann hinein in immer grüner werdende Hügel. Wir fahren aus den Anden, die sich von Nord nach Süd durch die Mitte Ecuadors ziehen, Richtung Nordwesten in den subtropischen Nebelwald – den Übergangsbereich zwischen Anden und Küste. Die Luft wird feucht und immer öfter schlagen große Farn- und Palmenblätter gegen die noch staubigen Busfenster. Vor etwa einer Stunde haben wir die befestigte Teerstraße verlassen und holpern seitdem über eine sandige Buckelpiste in Serpentinen abwärts. Etwa 1500-2000 Höhenmeter hat der Bus bereits zurückgelegt, als wir ein kleines Dorf passieren und kurz anhalten. Eine Cola für die Busfahrer, ein paar Pakete werden ein- und ausgeladen – oft sind auch ein paar Hühner in schwarzen Plastikfasersäcken dabei. Aus den Lautsprechern läuft lauter Cumbia. „Siga, siga, vamos!“ rufen die Busfahrer, schon den Bus startend, und die Fahrt geht tiefer in die grünen Wälder. Nach etwa vier Stunden kommen wir an einem Dorfplatz an. Drumherum schmiegen sich etwa 20 Häuser, die aus Stein und dunklem Holz zusammengebaut sind. Ein paar Jugendliche spielen in der Mitte des Platzes Ecuaball, eine ecuadorianische Form des Volleyball. Als ich aussteige schlägt mir warmer Nieselregen ins Gesicht, die Kleidung klebt am Körper. „Hallo, Fabián?“, spricht mich ein junger, stämmiger Mann in gelbem T-Shirt und schwarzen Gummistiefeln an. „Hola Wilter, como se va?!“

(Foto: Fabian Franke)

(Foto: Fabian Franke)

Wilter ist in diesem Dorf im Subtropico aufgewachsen. Ich habe ihn vor einiger Zeit im Hauptbüro in Quito kennengelernt, wo er sich Lehrmaterialien abgeholt hat und mit Dolores einige Dinge besprach. Wilter kommt dort her, wohin IRFEYAL Bildung und Ausbildung bringen möchte: „Wo der Asphalt aufhört.“ Die nächste weiterführende Schule ist so weit weg, dass bei den meisten Jugendlichen in Regionen wie dieser die Schulbildung nach der Grundschule aufhört. Die Unterschiede der Bildungsmöglichkeiten zwischen Stadt und Land könnten größer nicht sein. Während in den größeren Städten Quito, Guayaquil und Esmeraldas eine Vielzahl verschiedener Colegios, Universitäten und weiterführender Schulen um die Gunst der SchülerInnen wirbt, stehen die Chancen für die ländliche Bevölkerung schlecht. Stundenlange Schulwege sind die Folge – wenn sie überhaupt angetreten werden. Oft überwiegt der Bedarf der Familie nach der Arbeitskraft der Kinder auf dem Feld und im Haushalt. Auch das junge Alter der Mutterschaft im ländlichen Gebiet spielt dabei eine Rolle: Frauen heiraten dort früher und bekommen oft schon mit unter 18 ihr erstes Kind. Das hat zur Folge, dass der Durchschnitt – also sogar ohne Einbezug der starken Stadt-Land-Unterschiede – der absolvierten Schuljahre in Ecuador bei sieben liegt (in Deutschland sind es 13). Sollen dann in einer Region die Bildungsmöglichkeiten verbessert werden, braucht es engagierte Menschen wie Wilter. Er hat vor ein paar Jahren bei IRFEYAL um Unterstützung gebeten und so im Nachbardorf eine Semipräsenz-Schule errichten können. IRFEYAL stellt dafür die Lernmaterialien bereit, arbeitet Lehrpläne aus (die den staatlichen entsprechen) und bietet Weiterbildungen für die freiwilligen LehrerInnen an. Diese kommen nämlich aus der Dorfgemeinschaft selber, um die Integrität zu erhöhen und den regionalen Zusammenhalt zu stärken. Auf diese Weise sind über 100 Einrichtungen von IRFEYAL in ganz Ecuador entstanden, die auch in den entlegensten Regionen Aus- und Weiterbildung ermöglichen.

Als ich Wilter begrüßt habe, gehen wir gemeinsam zum Laderaum des Busses. „50 frisch gedruckte Bücher, mit CD!“ sage ich und zeige auf zwei große Pappkartons, die etwas lädiert im schmierigen Laderaum stehen. Wilter strahlt über das ganze Gesicht. „Die bringen wir morgen zum Unterricht.“ Heute ist Freitag und der Unterricht wird an den kommenden beiden Tagen stattfinden. Noch etwas Zeit also, um Wilter bei den täglichen Arbeiten zu helfen. Wilter wohnt mit seiner Mutter, seiner Schwester, seiner Nichte und seinem Schwager unter einem Dach. Seine Frau und seine beiden Kinder arbeiten und studieren in Quito, doch dort möchte er nicht ständig wohnen. „Quito ist mir zu laut. Zu dreckig. Ich freue mich immer, wenn ich am Wochenende hierher kommen kann, wo ich geboren bin“, erzählt er mir, während wir mit Macheten, Plastiksäcken und einer Schubkarre durch den Nebelwald gehen. Jede Familie des Dorfes hat etwas außerhalb ein kleines Stück Land mit einigen Tieren, ein paar Bananenstauden, Yuca und Mais. Wir säubern den Schweinestall, fangen zwei Hühner – das eine werde wir heute essen, das andere wird morgen im Bus nach Quito fahren, um dort verkauft zu werden – und schlagen reife Bananenstauden ab. Auf dem Heimweg lutschen wir Zuckerrohr – caña – das die Zähne weiß aber faul macht. Obwohl es bereits acht Uhr abends ist, klebt die Kleidung noch immer schwül-warm am Körper. Im Wald stimmen Tiere ihr Konzert ein.

Am nächsten Morgen beladen wir einen Pickup mit den Schulbüchern. Der Wagen gehört einem Dorfbewohner, der gegen kleine Bezahlung Fahrten erledigt. Wir schwingen uns auf die Ladefläche und klopfen auf das Blechdach: „Vamos!“ ruft Wilter ihm zu. Rumpelnd setzt sich der rostige Toyota in Bewegung. Ich lehne mit dem Rücken an einen schwarzen Plastiksack, der schon vorher auf der Ladefläche stand. Plötzlich sehe ich Blut zwischen meinen Beinen hindurch Richtung Heck rinnen. Ich schrecke hoch und stoße mir dabei schmerzhaft den Kopf am Überrollbügel. Wilter lacht und kriegt sich nicht mehr ein, sein ganzer Körper bebt unter lautem Dröhnen. „Das ist nur Schweinefleisch! Das soll morgen im Nachbardorf für eine Feier verkauft werden“, ruft er mir gegen den Lärm des Motors entgegen, während der Fahrer unbehelligt weiterfährt. Nach etwa 15 Minuten Fahrt durch den dichten Wald erreichen wir das Nachbardorf, das nicht viel größer ist Wilters Heimat. Der einzige Unterschied sind zwei flache, langgezogene Bauten, die am Rand des Dorfplatzes stehen – die Schule. Hierhin gehen also auch die Anstrengungen, die im Hauptbüro in Quito unternommen werden. Ohne IRFEYAL und die engagierte Dorfgemeinschaft könnte man hier zwar die Grundschule besuchen, danach wäre jedoch Schluss. Durch die Kooperation werden neben der weiterführenden Schule nun sogar handwerkliche Ausbildungen, wie beispielsweise zur Näherin, angeboten. Das ist wichtig, um die ländlichen Regionen auch wirtschaftlich aufzuwerten, da sie so nicht in ihrer abhängigen Rolle als Rohstofflieferant für die Städte hängen bleiben.

(Foto: Fabian Franke)

(Foto: Fabian Franke)

An der Schule angekommen, erwarten uns 20 von 50 000 SchülerInnen aus Ecuador, die bei IRFEYAL eingeschrieben sind. Nach einem Morgenappell auf dem Platz zwischen den beiden Gebäuden stehen die Schüler Schlange, um eines der neuen Schulbücher für sich zu beanspruchen. Die Gebäude sind teilweise aus Beton, teilweise aus ausgehölten Baumstämmen zusammengebaut, ein Wellblechdach schützt vor Regen. Die Holzbänke sind für Kleinkinder gemacht, die älteren SchülerInnen sitzen mit den Knien an den Ohren stundenlang und hören eifrig den LehrerInnen zu. Wilter gibt heute Unterricht in Mathe, seine Nichte in Englisch. An die Hausaufgaben schließt sich die immer gleiche Lektion an: „Und denkt dran, ab Montag um fünf Uhr abends habt Ihr wieder Radiounterricht!“ IRFEYAL im Nebelwald – und endlich verstehe ich, warum die Arbeit gerade da so wichtig ist, „wo der Asphalt aufhört“.

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