Emanuel Rogge, der Ethnologie an der Uni Leipzig studiert, reist schon seit vielen Jahren „per Daumen“, was ihn in manch interessante Ecken der Welt geführt hat. So war er als Tramper innerhalb Deutschlands, Frankreichs, aber auch bis nach Mittelschweden, Iskenderun und bis an die Syrische Grenze unterwegs. Sein mittlerweile umfangreiches Sammelsurium an Erfahrungen hat ihn dazu bewegt, den folgenden Artikel zu schreiben, in dem er versucht, solche naiv gestellte Fragen zu beantworten, wie: Gibt es das Trampen eigentlich noch oder hat es schon längst ausgedient? Was motiviert Tramper und auch die Autofahrer, die diese Fortbewegungsart und diesen Akt der Güte vernachlässigen oder unterstützen? Und welche Voraussetzungen muss man selbst mitbringen um am System „Trampen“ mitzuwirken? Dabei stellt er das Vorhandensein und die verschiedenen Einstellungen zu Individualität, Moral, „Gut und Böse“, Vertrauen, Leidenschaft, Abenteuerlust und sozialer Kompetenz zur Diskussion. Es sind Gedanken, die einen Tramper überkommen, an dem ein Auto nach dem anderen vorbei fährt, ohne anzuhalten.
Vorwort von Ronja Schäfer
Das Übel, die Lust, das Ungewisse und der Genuss
Mit dem Einsetzen meiner Überlegungen zu diesem Artikel war ich zunächst überrascht, wie viele Beispiele der Mühsal aufkamen, welche das Trampen scheinbar ganz und gar in ein ungenießbares Licht stellen. An erster Stelle: das lange Warten, dicht gefolgt von den widrigen Witterungsverhältnissen, den leeren Wasserflaschen und zu guter Letzt der verpassten Premiere. Am liebsten hätte ich Steine nach all den Karren schmeißen können, die frohen Windes an mir vorbeirauschten.
Was von der aufgewirbelten Erde übrig bleibt: das Geduldspiel, das Einüben von Toleranz, das Trainieren, diesen Augenblick empathisch (irgendwie sinnerfüllt erklärbar) nachvollziehen zu können und das Ausschauhalten nach sprudelnden Wasserquellen. In zweiter Instanz hat mich die Frage beschäftigt, welche Gründe es gibt, warum Menschen Trampenden einen Gefallen erweisen? Eine bedeutendere Frage als jene, welche die Motivation der Menschen bespiegelt, die ihren Daumen, ihr Schild oder ähnliches unverkennbares in die Luft zu strecken. Und warum? Aufgrund dass sich das stoppende Wesen in einer Bittstellung befinde?
An diesem Punkt ist ein Übel ersichtlich, das ich dem Trampen zuschreibe und im Folgenden näher umschreibe. Doch in wenigen Worten vorab: es ist das Unverhältnis zwischen Handlungsakten gutmütiger Couleur und dem Unwillen, für lau etwas Gutes zu tun. Abseits einer negativistischen Erörterung sollen schlussendlich Bemühungen das Trampen in einen Mittelpunkt rücken, welche es als ein multifunktionales, dienliches und genussvolles Fortbewegungsmittel offenbaren. Und nicht, weil ich dem Autostoppen zwangsläufig und aus Verzweiflung die Piemontkirsche aufsetzen möchte, sondern wegen seiner herausragenden Gutheit, sofern sich die teilnehmenden Geschöpfe an spezifische Spielregeln halten.
Das zweitletzte Wort trifft den Nerv der Diskussion: mit welchem Ethos pflegen wir Spielregeln zu manifestieren, die ein Trampen unbegrenzt ermöglichen?
Die Medienlandschaft sät den Samen der Angst, das Elternhaus verlässt sich auf die ausgediente Floskel, dass du ja bei niemand Fremden einsteigen sollst, in der Schule lernen wir, dass es sicherer und bequemer ist, seine Volljährigkeit abzuwarten, um dann den Führerschein zu machen. Und die Freunde wissen genauso viel wie ich, nämlich, dass Trampen gefährlich ist.
Meines Erachtens fördert und beschleunigt die totalisierte Individualisierung des Anthropozäns das Vereinzeln der Individuen und das Trampen fungiert optimal als Indikator für kapitalisierte Gesinnungen; und das nicht mal negativiert gedacht, stattdessen faktisch und realistisch. Dieses Anhäufen von irdischem und materiellem Lebensglück findet Ausdruck im Übergehen zwischenmenschlicher Bedürfnisse, oder anders formuliert: im emotionalen Ausweichen. Ich, der Autofahrer, bin zu gestresst, weil Zeit Geld ist, weil das Gefährt nur auf mich zugelassen ist und ich generell an Trampern vorbei fahre, ohne jedoch eine ethisch nachvollziehbare Erklärung anführen zu können. So sehr sich Menschen darin versuchen, individuell zu sein, desto eher verlieren sie sich im Strudel der akephalen Masse; weit entfernt von dem Streben nach Selbstständigkeit, Selbstbeherrschung und dem Verfolgen gemeinschaftsstiftender Sittengesetze.
Paradoxerweise verfehlen sich in diesem Sinne die Definitionsweisen von Individualität. Dennoch ist es auch nicht von der Hand zu weisen, dass die Neigungen entindividualisierter Klein- und Großkapitalanleger gedeckelt sind. Die Unmündigkeit in der Gegenwart, seine Neigungen umzusetzen, trägt dazu bei, dass das, was gut ist, in Dingen verortet ist; was messbar, erwerbbar und bezahlbar ist – das Übel des Besitzenwollens. Der Wille zum Besitzen ist ein Vermögen, sich in direkte Bedingtheit durch äußere Bedingungen zu stellen und schafft Abhängigkeitsbeziehungen, die nicht omnipräsent stillend sind, doch dafür einfach gestrickt, eine simplifizierte Form der Bequemlichkeit verlangen und das höchste Maß an Leiden in sich bergen. Ergo: es findet eine Pathologisierung der moralischen Qualität statt, weswegen tagtäglich Tramper am Rande des Verkehrs versauern.
Eine gute Tat kann alles und alle betreffen, doch ein aufrichtig sittliches Bewusstsein nur das vernunftbegabte Wesen allein, das selbst entscheidet, wie und ob es sein Leiden ertragen muss. Dazu gehört auch, sich darin zu üben, seine emotionale Verspanntheit abzulegen, um das Harmonisieren des Willens und der Neigungen bewusster koordinieren zu können. Daraus ergibt sich die Chance, ein inneres Gleichgewicht herzustellen, das sich nach Außen hin den Trampern dienlich zur Seite stellt, ohne dabei auf kapitalistische Werturteile zurückzugreifen. Dementsprechend ist die Ansicht zu negieren, in dem stoppenden Wesen eine Ware zu sehen, das sich dadurch einer automatisierten Hierarchisierung unterzieht; ob nützlich oder unbrauchbar. Dahingegen als ein Geschöpf, das auf die unbezahlbare und, für den Außen stehenden, uneinsichtige Gutheit und dem Lusterfülltsein des Lenkers und seiner Mitinsassen angewiesen ist.
Wer fern von schablonierten Pfaden der Reisekataloge und unter Assistenz der Individualmotorisierung auf Tour sein oder zur Arbeit tuckern möchte, findet im Trampen ein ideales Fortbewegungsmittel und unnachahmbare Abenteuer. Zugleich schwingt aber auch affektiv das Ungewisse mit – als ein Ausdruck für das Projizieren von vorverurteilenden Charakterzügen und Bildern in die Menschen, auf dessen Vertrauen und Verantwortungsbewusstsein sich Trampende stützen.
Im Gefährt: die sich entwickelnde und rotierende Gedankenkost der Stopper – Fragen und Zweifel, die sich aus sinnlich ergriffenen Anlässen ergeben. Damit bringen sie sich vorgeblich rational aus der intrinsischen Balance. Es ist eine berechtigte Skepsis, ob das Vereinbarte zwischen LKW-Fahrer und Anhalter jemals verwirklicht werde und ich gestehe ein, dass sich an dieser Stelle ein tatsächlicher Knackpunkt eröffnet. Auf der anderen Seite habe ich den Eindruck, dass sich durch das Trampen eine besondere Form der Psychoaktivität äußert.
Das Trampen als einen Kick zu umschreiben, ist legitim – ein Ereignis, mit dem die Psyche im höchsten Maße stimuliert ist und das Erkennen von Tatsachen eine sensible Behandlung und Bewertung erfahren sollte. Demnach beginnt an dem Knackpunkt das Abenteuer, an der Schnittstelle, an der ich die Tür hinter mir zuziehe und fremdes Terrain betrete. Es setzt eine Reise durch die Gedanken,- Gefühls- und Phantasiewelten des eigenen Egos ein und eine zeitgleiche Beleuchtung und Erforschung der fragwürdigen Gegebenheiten, welche mein Gegenüber offenbart. Hierdurch sollen Klarheiten geschaffen werden, die Gewissheit bringen. Im übertragenen Sinne ist somit das Ungewisse das Abenteuer selbst und es bedarf eines psychologisch gefestigten Charakters, dem hautechten, teleologisch annähernd auf den Grund zu gehen. Oder auch nicht, je nach Gemütslage, womit ich verbalisieren möchte, dass die pure Leidenschaft für das Trampen sich gerade auch über die Selbstbestimmtheit identifiziert: sich auf Gespräche einzulassen, Konversationen in Gang zu setzen, im Truck zu pennen oder sich körperlich bzw. mental wehren zu können; im Spontanen oder Präventiven. Sofern Neigung und Wille in einem harmonischen und versöhnlichen Einklang zueinander stehen, stellt sich zur gleichen Zeit als Folge ein immanenter und synchroner Genuss ein. So spiegeln jene Augenblicke und Erlebnisse, in welchen das Trampen gänzlich auf Lust zum Abenteuer (als eine normative Gestalt von Neigung) und Willensausbildungen basiert, das Genussvolle wider, was das Stoppen zu einem einzigartigen Werkzeug des zwischenmenschlichen Austausches macht.
Jedes Wesen hat seine eigenen Geschmäcker, so auch ich, der mit diesem Artikel das Trampen näher beleuchten wollte, wobei natürlich vielerlei relevante Aspekte unbeachtet blieben. Erfahrungsgemäß ist das Trampen dem Lebenden geweiht. Es mag sein, dass es regionalspezifisch an Wichtigkeit verloren hat und marginal in Erscheinung tritt, doch liegt es im eigenen Ermessen jedes Menschen, ob das Trampen als Phänomen ausgedient hat.
Somit ist jeder Mensch Vorbild der Sache, welcher er nachgeht. Dadurch bestimmt er gleichzeitig über die Gutheit der Sache und inwiefern eine Begebenheit wie (z.B.) das Trampen, lebendig ist. Und ist es nicht lebendig und genussvoll, via Trampen seinen Wissensdurst zu stillen, Wirklichkeiten und ihre Wahrheiten zu überprüfen, an phantastische Orte zu gelangen, vom Trampen direkt in die Küche der Mutter geführt zu werden, um dort eine wärmende Suppe zu verspeisen, die eigenen Tiefen des Charakters zu erkunden und im Allgemeinen Menschen und ihre Bedürfnisse zu befriedigen? Damit möchte ich abschließend nochmals unterstreichen, welche multifunktionalen Besonderheiten im Trampen vorzufinden sind, die beispielloser nicht sein können.