Tourismus- und Freizeitgeographie – eine verkannte Teildisziplin der Geographie

Ein Beitrag von Werner Bätzing, das in der 10. Ausgabe von entgrenzt erschienen ist. Der Autor ist emeritierter Professor für Kulturgeographie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er beschäftigt sich seit 1977 mit der Situation und den Problemen des Alpenraumes und seit 1995 auch mit dem ländlichen Raum in Franken; in beiden Kontexten spielt für ihn die Tourismus- und Freizeitgeographie eine gewisse Rolle, u.zw. sowohl in theoretischer, empirischer wie auch in praktischer Beziehung. Dieser Aufsatz reflektiert die Erfahrungen mit seinen regelmäßig angebotenen Einführungsseminaren „Tourismus- und Freizeitgeographie“; ein besonderer Dank geht dabei an zahlreiche engagierte studentische Beiträge.

1 Einleitung

Um das Jahr 1970 herum transformierte sich die Industriegesellschaft in eine Dienstleistungsgesellschaft (Hanzig-Bätzing/Bätzing 2005: 55 ff.). In diesem Kontext wurde das zuvor elitäre Phänomen des Tourismus zu einem Massenphänomen, das alle Gesellschaftsschichten erfasste, und es bildete sich bald auch ein eigenständiger Freizeitbereich heraus, der im Laufe der Zeit eine hohe sozio-kulturelle und ökonomische Bedeutung erlangte1. Es ist daher kein Zufall, dass die Phänomene „Tourismus“ und „Freizeit“ seit den 1970er Jahren stark aufgewertet wurden und werden, in allen Medien sehr präsent sind und dass die Dienstleistungsgesellschaft immer wieder auf stark verkürzte Weise als Freizeitgesellschaft bezeichnet wird.
Überprüft man, in welchen inhaltlichen Kontexten in den Medien Tageszeitung, Radio und Fernsehen über Tourismus und Freizeit berichtet wird2, dann steht in der Regel der ökonomische Aspekt sehr deutlich im Zentrum (ökonomischer Stellenwert von Tourismus/Freizeit für Bruttosozialprodukt, Außenhandel, Konsumausgaben, für einzelne Regionen oder Orte), gefolgt von sozio-kulturellen Aspekten (kulturelle Transformationen oder Konflikte, die durch Entwicklungen im Tourismus ausgelöst werden) und von psychologischen Aspekten (Motivationen für Wahl bestimmter Tourismus-/Freizeitformen und –orte), wobei Platz 2 und 3 auch gelegentlich ihre Platzierung tauschen können.
Auffällig ist, dass der geographische Aspekt von Tourismus/Freizeit nur wenig in den Medien vertreten ist und dass es der Tourismus- und Freizeitgeographie nur selten gelingt, ihre Ergebnisse in den großen Medien zu präsentieren. Diese Situation ist deswegen erstaunlich, weil sich das Fach Geographie bereits früh mit dem Phänomen Tourismus beschäftigt und dazu zwei große theoretische Ansätze vorgelegt hat. Deshalb waren bzw. sind die fachinternen Voraussetzungen eigentlich gut, dass sich die Geographie zu dieser Thematik theoretisch profund und praxisrelevant äußern kann.

2 Zwei große Ansätze in der Tourismus-/Freizeitgeographie

Der erste große Ansatz stammt von Hans Poser aus dem Jahr 1939 und wird am Beispiel des Riesengebirges entwickelt. Im Rahmen des damaligen Konzepts der Geographie der Landeskunde besteht sein Ziel darin, erstmals an einem Beispiel konkret nachzuweisen, dass mit dem „Fremdenverkehr“ eine ganz spezifische Prägung der Landschaft verbunden ist, die sich von anderen Kulturlandschaften (Ackerbau-, Weinbau-, Weidelandschaften oder Industrie- und Stadtlandschaften) signifikant unterscheidet und dass dies auch zu einem neuen Teilgebiet der Anthropogeographie führen müsse, um diesem Phänomen gerecht werden zu können (Poser 1939: 2-3). Aus heutiger Sicht erscheint dieser Ansatz sehr modern: Hans Poser geht keineswegs – wie viele zeitgenössische Anthropogeographen – (latent) naturdeterministisch vor, sondern er betont explizit die „Wechselwirkungen und Wechselbeziehungen zwischen dem Fremdenverkehr und den natürlichen und anthropogeographischen Erscheinungen auf der Erdoberfläche“ (Poser 1939: 2). Dies schlägt sich auch in der Gliederung seiner Monographie nieder: Der erste Teil ist der Abhängigkeit des Fremdenverkehrs von der Landschaft gewidmet, während der zweite Teil den Fremdenverkehr als Landschaftsgestalter und –veränderer thematisiert. Zugleich stellt Poser den Fremdenverkehr ganz gezielt in den regionalen Kontext und entwirft eine „integrative“ Analyse, die alle Teilbereiche des aktuellen Nachhaltigkeitsdiskurses abdeckt (Umwelt, Wirtschaft, Gesellschaft, Siedlung, Verkehr), auch wenn er dabei teilweise andere Begriffe gebraucht.
So modern (weil „integrativ“ konzipiert) dieser Ansatz einerseits auch ist, so gibt es andererseits drei zentrale Aspekte, die es verunmöglichen, dass man auf ihn heute unmittelbar zurückgreifen könnte: Erstens kommen die Menschen nur als Gattungswesen vor („der Mensch“), so dass nicht zwischen unterschiedlichen Gruppen/Individuen und ihren Interessen unterschieden werden kann. Zweitens wird das Grundmotiv des Fremdenverkehrs naturalistisch interpretiert (der landschaftliche Gegensatz zwischen Quell- und Zielgebiet als Ursache für den Fremdenverkehr) und drittens verbleibt dieser Ansatz streng innerhalb einer deskriptiven Analyse (Klassifizierung und Typisierung von Fremdenverkehrslandschaften als Ziel einer weltweit angelegten Fremdenverkehrsgeographie) und entwickelt keine Ansätze zur Lösung der analysierten Situationen3.
Der zweite große Ansatz stammt von der Münchner Schule der Sozialgeographie und wurde in der ersten Hälfte der 1970er Jahre entwickelt4. Während Hans Poser von der Landschaft ausgeht (vom Zielgebiet oder angebotsorientiert), gehen Karl Ruppert und Kollegen von den Akteuren aus, die gruppenspezifisch differenziert betrachtet werden (vom Quellgebiet oder nachfrageorientiert). Das gesamte menschliche Verhalten wird in sieben sogenannte „Daseinsgrundfunktionen“ unterteilt, die Funktion „Sich erholen“ stellt eine von diesen dar. Damit besitzt diese Funktion im Rahmen der gesamten menschlichen Verhaltensweisen eine herausgehobene Position. Dies schlägt sich auch darin nieder, dass der dafür zuständige Teilbereich der Geographie, die Geographie des Freizeitverhaltens, einen der Teilbereiche der Sozialgeographie darstellt.
Mit der Perspektivenverlagerung vom Ziel- zum Quellgebiet konnten nun – parallel zum gesellschaftlichen Wandel – erstmals die Freizeitphänomene jenseits des Tourismus in den geographischen Blick kommen. Die Münchner Schule der Sozialgeographie entwirft dafür eine Dreigliederung für die Aktionsräume des Freizeitverhaltens, wobei die zeitliche Dauer das Gliederungskriterium darstellt: Wohnumfeld (bis zu mehreren Stunden) – Naherholungsraum (halbtags bis Wochenende) – Fremdenverkehrsraum (längerfristig). Dabei bleibt die Freizeit in der Wohnung und im eigenen Garten aus der geographischen Analyse ausgeschlossen, weil damit kein Ortswechsel verbunden ist (Maier et al. 1977: 146). Damit konnten diese neuen gesellschaftlichen Phänomene, die mit der Massenmotorisierung ab den 1960er Jahren eine große räumliche Relevanz erhielten, erstmals von der Geographie analysiert werden.
Charakteristisch für diesen Ansatz ist es, dass er nicht bei der Analyse stehen bleibt, sondern sich gezielt in Form von Raumordnung und Regionalplanung für problemorientierte Lösungen engagiert5. Klassisches Beispiel für solche Problemlösungen ist die räumliche Entflechtung von Fremdenverkehr (prioritär in den Bayerischen Alpen) und Naherholung (prioritär im Voralpenraum) bzw. von Naherholung (an geeigneten Stellen im Voralpenraum) und Erholung im Wohnumfeld (am Stadtrand von München oder in innerstädtischen Grünanlagen), was eng mit der Verkehrsplanung verbunden ist (Verbesserung der Erreichbarkeit, um überlastete Erholungsstandorte zu entlasten).
Die systematische Trennung zwischen den einzelnen Daseinsgrundfunktionen ist jedoch die Stärke und Schwäche dieses Ansatzes zugleich: Die räumliche Segmentierung der einzelnen Daseinsgrundfunktionen voneinander und ihre Lokalisation an unterschiedlichen Orten führt letztlich zu einer extrem funktionsteilig organisierten Raumstruktur, deren einzelne Funktionszellen monofunktional getrennt nebeneinander stehen, wodurch sehr viel Verkehr erzeugt wird und eine kalte, sterile Lebenswelt entsteht. Deshalb ist dieser Ansatz heute – wo wieder lebendige, multifunktionale Funktionsmischungen angestrebt werden – nicht mehr umsetzbar. Zugleich sind viele aktuelle Entwicklungen im Freizeitbereich dadurch geprägt, dass sie mehrere Funktionen miteinander mischen (Urban Entertainment Center, Erlebniseinkäufe, Freizeitparks als Kurzurlaubsziele, Edutainment usw.), wodurch der Ansatz der strikten funktionalistischen Funktionstrennungen seine Berechtigung verliert.

3 Zur gegenwärtigen Situation der Tourismus- undFreizeitgeographie

Nach meiner persönlichen Bewertung gibt es nach diesen beiden großen geographischen Ansätzen bis heute keinen neuen „großen“ Ansatz mehr. Die Fülle von Darstellungen der Tourismus- und Freizeitgeographie ist zwar groß (Becker et al. 2003, Hopfinger 2007, Job et al. 2005, Reeh/Ströhlein 2011, Schmude/Namberger 2010, Steinbach 2003, Steinecke 2011, Kagermeier 2015), aber alle sind m.E. dadurch geprägt, dass sie auf eine pragmatische Weise Elemente aus den beiden genannten Ansätzen mit weiteren theoretischen, empirischen und politischen Elementen kombinieren. Dadurch entstehen durchaus praxisrelevante Ansätze, die angehenden Geographen die notwendigen Werkzeuge für eine Berufstätigkeit in diesem Themenfeld vermitteln, aber ein „großer“ Neuansatz ist m.E. bislang nicht darunter.
Allerdings sind die institutions- und universitätspolitischen Rahmenbedingungen dafür auch nicht günstig: In der Phase der „quantitativen Geographie“ (1970er bis 1980er Jahre) lag das Schwergewicht darauf, die Anthropogeographie mit naturwissenschaftlichen Methoden zu erweitern, was bei der Tourismus- und Freizeitgeographie nur selten sinnvoll ist. In den 1990er und in der ersten Hälfte der 2000er Jahre war das Thema „Nachhaltigkeit“ zwar sehr modisch, aber die Geographie tat sich schwer, es problemorientiert aufzugreifen, weil es inhaltlich ziemlich nah an der alten Geographie der Landeskunde war. Seitdem sich nun die „Neue Kulturgeographie“ in der Anthropogeographie ausbreitet, stehen Dekonstruktionen im Zentrum, was den Entwurf von neuen Konstruktionen erheblich erschwert (Bätzing 2011).
Zusätzlich wird der Entwurf eines konzeptionellen Neuansatzes einer Tourismus- und Freizeitgeographie durch die aktuelle „Leistungsorientierung“ an den Universitäten behindert: Die meisten Leistungspunkte erhält man durch Publikation von Artikeln in Fachzeitschriften mit hohem impact-Faktor, in denen man aber nur hochspezialisierte Themen behandeln kann, und eine Monographie zählt nicht als Leistung, weil es dafür kein quantitatives Bewertungskonzept gibt. Und Drittmittel, die für Leistungspunkte ebenfalls sehr relevant sind, erhält man am ehesten für konkrete empirische Forschungsprojekte, aber kaum für die Erarbeitung eines neuen Ansatzes.

4 Zur Bedeutung der Tourismus- und Freizeitgeographie in unserer heutigen Welt

Auch wenn die Tourismus- und Freizeitgeographie in der Öffentlichkeit kaum präsent ist, so besitzt sie trotzdem eine sehr wichtige Aufgabe: Während alle anderen Wissenschaftsdisziplinen dieses Phänomen sektoral angehen, führt die Tourismus- und Freizeitgeographie eine „integrative“ Analyse durch, bei der die Wechselwirkungen zwischen Umwelt – Wirtschaft – Gesellschaft im Zentrum stehen und je nach Gegenstand weitere Aspekte eine wichtige Rolle spielen können wie z.B. Symbole, Klischees oder Träume (Urlaub als „Traumwelt“).
An einer solchen integrativen Analyse besteht nicht nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein gesellschaftliches Interesse: Wenn eine touristische Entwicklung zu Umweltveränderungen und –zerstörungen führt, wenn dadurch soziale und kulturelle Konflikte eskalieren oder wenn durch unbeabsichtigte Nebenwirkungen hohe Kosten entstehen, dann entsteht ein Handlungsbedarf, bei dem man Experten sucht, die die Wechselwirkungen zwischen ökologischen, ökonomischen und sozio-kulturellen Dynamiken in einem konkreten Raum verstehen und gestalten können – und dies ist m.E. die Kernkompetenz des Faches Geographie.
Allerdings lässt sich immer wieder feststellen, dass das Interesse an der geographischen Kompetenz in der Tourismus-/Freizeitbranche dort am geringsten ist, wo es hochspezialisierte Strukturen gibt (z.B. in Tourismus- oder Hotelkonzernen), und dort am größten ist, wo Tourismus/Freizeit am stärksten mit der nichttouristischen Welt verflochten ist. Deshalb besitzen Geographen die besten Berufsaussichten als Tourismusmanager auf der Ebene von Gemeinden, Landkreisen, Regionen oder als Tourismusverantwortliche im Rahmen von National-, Naturparks, Biosphärenregionen oder im Rahmen von Stadt- und Regionalentwicklung, also überall dort, wo Tourismus eine Querschnittsaufgabe darstellt und das Gespräch mit vielen nichttouristischen Akteuren erfordert.
Gerade weil unser global, national und regional so stark vernetztes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem immer anfälliger auf unbeabsichtigte Nebenwirkungen zweckrationalen Handelns reagiert, wird die geographische Kompetenz derzeit immer wichtiger und ihre Bedeutung dürfte auch in Zukunft weiter steigen. Es bleibt zu hoffen, dass es den Fachvertretern gelingt, sich auf diesem Hintergrund öffentlich für ihr gesellschaftlich wichtiges Anliegen mehr Gehör als heute zu verschaffen.

5 Tourismusgeographie konkret: Die Alpen

Im Rahmen meiner eigenen jahrzehntelangen Beschäftigung mit den Alpen spielte der Tourismus stets eine relevante Rolle (vgl. Bätzing 2015, Kapitel III, Abschnitt 5; Bätzing 2015a). Zentrale Erkenntnis dabei war und ist, dass der Tourismus im Alpenraum quantitativ seit 20–25 Jahren stagniert und dass er sich in dieser Zeit räumlich sehr stark konzentriert: 50 % aller touristischen Betten der Alpen finden sich in nur 5 % der Alpengemeinden. Daher ist es wichtig, die Alpen nicht als eine große Tourismusregion anzusehen, sondern zwischen der Situation der etwa 300 großen Tourismuszentren und der Situation der übrigen Alpengemeinden, die wenig oder gar keinen Tourismus besitzen, zu unterscheiden. Daraus folgen auch unterschiedliche Zukunftsperspektiven: Für Tourismuszentren habe ich gefordert, dass kein weiterer quantitativer Ausbau der touristischen Infrastrukturen stattfindet, weil das den ruinösen Wettbewerb weiter verstärkt, und dass stattdessen die touristischen Ghetto-Strukturen abgebaut und die Bezüge zur Regionalwirtschaft und zur regionalen Kultur gestärkt werden. In den anderen Alpengebieten sollte dagegen ein nicht-technischer Tourismus auf der Grundlage der endogenen regionalen Potenziale ausgebaut werden, jedoch nicht als Monofunktion, sondern als ergänzende Wirtschaftsaktivität, um die bedrohten dezentralen Arbeitsplätze zu sichern. Dadurch soll verhindert werden, dass sich der Tourismus noch weiter aus der Fläche zurückzieht, wie man es seit 25 Jahren in den Alpen beobachten kann (Bätzing/Lypp 2009).
Da ich die Entwicklung einer klassischen Entsiedlungsregion der Alpen am Beispiel des piemontesischen Stura-Tals seit über 35 Jahren sehr genau verfolge und mich für ihre umwelt- und sozialverträgliche Aufwertung engagiere, bin ich selbst zum touristischen Akteur geworden: Ich habe einen zweibändigen Wanderführer für den Weitwanderweg „Grande Traversata delle Alpi/GTA“, der durch die piemontesischen Alpentäler mit starker Entsiedlung führt, geschrieben und dadurch mit dazu beigetragen, dass dieses vorbildliche Tourismusprojekt heute noch existiert (Bätzing 2011a6). Da die GTA aber nur als eine Linie durchs Gebirge führt, diese Alpenregion aber einer flächenhaften Aufwertung bedarf, habe ich das durch die GTA entstandene Interesse an den piemontesischen Alpen im deutschen Sprachraum dazu genutzt, um weitere Wanderführer für kleinere Alpengebiete zu konzipieren und zu publizieren. Dies war nur möglich, weil der Rotpunktverlag in Zürich sehr daran interessiert war, Wanderführer zu publizieren, die nicht nur Wegbeschreibungen enthalten, sondern die zugleich in die durchwanderte Region einführen und auch deren Probleme ansprechen. Zweitens war mir dies nur möglich, weil ich mit dem Geographen Michael Kleider ab 2002 einen Mitarbeiter hatte, der die piemontesischen Alpen gut kannte und mit dem ich optimal zusammenarbeiten konnte. Dadurch entstanden zwischen 2006 und 2015 zusätzlich fünf Wanderbücher für Teilgebiete der piemontesischen Alpen7, die die Zahl der Besucher vor Ort spürbar erhöhten. Diese Wanderbücher zeigen, wie praxisrelevant eine geographische Regionsanalyse sein kann.

6 Tourismusgeographie konkret: Der ländliche Raum in Franken

Mit meiner Berufung an die Universität Erlangen-Nürnberg machte ich 1995 die Analyse und Auseinandersetzung mit dem ländlichen Raum in Franken zu meinem zweiten Schwerpunkt in Forschung und Lehre neben den Alpen. Ich stellte schnell fest, dass selbst die größten und bekanntesten Tourismusorte Frankens im Vergleich zu den Tourismuszentren der Alpen sehr klein waren und dass viele Gemeinden und Regionen gar kein oder nur ein äußerst bescheidenes touristisches Angebot besaßen. Dagegen kam dem Freizeitangebot (Tages- und Wochenendausflüge der Städter) oft eine wichtige Bedeutung zu, aber die hohen Besucherzahlen standen in einem ungünstigen Verhältnis zur lokalen Wertschöpfung.
In einer Reihe von mir betreuter Examensarbeiten wurden Vorschläge erarbeitet, welche lokalen Potenziale in umwelt- und sozialverträglicher Form für Freizeit- und Tourismusangebote aufgewertet werden könnten oder wie Tourismus/Freizeit und Regionalentwicklung besser miteinander verbunden werden könnten. An solchen Arbeiten waren die Akteure im ländlichen Raum stets sehr interessiert, und die Ergebnisse wurden – wenn sie gut ausfielen – oft vor Ort öffentlich vorgestellt und diskutiert.
Aus zwei Projektseminaren, die ich gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte durchführte und in denen wir den Wandel im ländlichen Raum in den Bereichen Umwelt – Wirtschaft – Gesellschaft jeweils am Beispiel einer Gemeinde untersuchten (die Geschichtswissenschaftler konzentrierten sich auf Archivarbeiten und die Zeit vor 1945, die Geographen auf geographische Feldforschung, die Auswertung von Strukturdaten und die Zeit nach 1945), entstand sogar ein touristisches Angebot: Aus der Zielsetzung, die wichtigsten Ergebnisse unserer Untersuchungen auch den Einwohnern der Gemeinde nahezubringen, entstand die Idee, dies anhand eines Rundganges durch Dorf und Flur mit verschiedenen Stationen zu realisieren. Da diese Idee auf sehr großes Interesse stieß, entstanden daraus die Themenwege „Spurensuche Kunreuth – ein kulturgeschichtlicher Wanderweg“ und der „Kulturweg Egloffstein – historischer Rundweg und geographische Rundwege“8 .
Diese Themenwege spielen heute im Rahmen der Gemeinden Kunreuth (Naherholung) und Egloffstein (Tourismus und Naherholung) eine relevante Rolle, weil sie von den Einheimischen geschätzt werden und deshalb auch für Besucher von außerhalb interessant sind.
Diese beiden Beispiele aus den piemontesischen Alpen und dem ländlichen Raum Frankens sollen deutlich machen, dass es der Tourismus- und Freizeitgeographie trotz des Fehlens einer großen Theorie gut gelingen kann, praxisrelevante Beiträge zur regionalen Entwicklung zu leisten, an denen die Akteure vor Ort sehr interessiert sind. In Sonderfällen können dabei sogar Universitätsgeographen touristische Angebote entwickeln, die einen positiven Einfluss auf die Regionalentwicklung nehmen.

Literatur

Bätzing, W. (2015): Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft, München (4. Fassung).
Bätzing, W. (2015a): Zwischen Wildnis und Freizeitpark – Eine Streitschrift zur Zukunft der Alpen, Zürich.
Bätzing, W. (2011): „Neue Kulturgeographie“ und Regionale Geographie. Können die Ansätze der „Neuen Kulturgeographie“ auf die Regionale Geographie übertragen werden? Eine kritische Bewertung vor dem Hintergrund von 30 Jahren Alpenforschung. IN: Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft, Bd. 153, S. 101–128.
Bätzing, W. (2011a): Grande Traversata delle GTA – der große Weitwanderweg durch die Alpen des Piemonts. 2 Bände. Zürich, 6. aktualisierte Auflage.
Bätzing, W./Lypp, D. (2009): Verliert der Tourismus in den österreichischen Alpen seinen flächenhaften Charakter? In: Mitteilungen der Fränkischen Geographischen Gesellschaft, Bd. 56, S. 327–356.
Bätzing, W./Weber, A.O., Hrsg. (2008): Kulturweg Egloffstein. Der kulturhistorische Wanderweg durch die Gemeinde Egloffstein, Markt Egloffstein.
Becker, C./Hopfinger, H./Steinecke, A., (Hrsg.) (2003): Geographie der Freizeit und des Tourismus. Bilanz und Ausblick, München/Wien.
Hanzig-Bätzing, E./Bätzing, W. (2005): Entgrenzte Welten. Die Verdrängung des Menschen durch Globalisierung und Fortschritt und Freiheit, Zürich.
Hopfinger, H. (2007): Geographie der Freizeit und des Tourismus. In: Gebhardt, H./Glaser, R./Radtke, U./Reuber, P., Hrsg.: Geographie – Physische Geographie und Humangeographie. München, S. 713–733.
Job, H./Paesler, R./Vogt, L. (2005): Geographie des Tourismus. IN: Schenk, W./Schliephake, K., Hrsg.: Allgemeine Anthropogeographie. Gotha/Stuttgart, S. 581–628.
Kagermeier, A. (2015): Tourismusgeographie. Eine Einführung. Stuttgart.
Maier, J./Paesler, R./Ruppert, K./Schaffer, F. (1977): Sozialgeographie. Braunschweig.
Poser, H. (1939): Geographische Studien über den Fremdenverkehr im Riesengebirge. Ein Beitrag zur geographischen Betrachtung des Fremdenverkehrs. Göttingen.
Reeh, T./Ströhlein, G., (Hrsg.) (2011): Orte, Wege, Visionen. Aktuelle Ansätze der Tourismusgeographie, Hannover.
Schmude, J./Namberger, P. (2010): Tourismusgeographie, Darmstadt.
Steinbach, J. (2003): Tourismus. Einführung in das räumlich-zeitliche System, München.
Steinecke, A. (2011): Tourismus. Eine geographische Einführung, Braunschweig.
Vogt, L. (2008): Regionalentwicklung peripherer Räume mit Tourismus? Eine akteurs- und handlungsorientierte Untersuchung am Beispiel des Trekkingprojektes Grande Traversata delle Alpi, Erlangen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert