Zwischen Space und Place – Auf der Suche nach einem gemeinsamen Territorium | Reflexionen über das Verhältnis von Politikwissenschaft und Geographie

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Ein Beitrag von Alexander Niedermeier & Wolfram Ridder aus der 9. Ausgabe von entgrenzt.

Zum grundlegenden Verhältnis von Geographie und Politikwissenschaft

„Does Politics Matter?“ – Spielt Politik für die Geographie ganz allgemein, aber auch und gerade für die Politische Geographie, überhaupt eine Rolle? Diese Frage mag seltsam anmuten, vor allem wenn sie in einem Standardlehrbuch der Politischen Geographie (Taylor/Flint 2000: 294) zu finden ist, könnte aber doch auf das besondere Verhältnis der beiden Fächer zueinander verweisen, das teils von wechselseitiger Ignoranz, teils von gegenseitiger Konkurrenz und teils von reziproker Überheblichkeit gekennzeichnet ist. Freilich noch kurioser mutet die Frage angesichts des Umstandes an, dass sie nicht von Geographen, sondern seitens der Politologie gestellt wurde. Am merkwürdigsten aber dürfte wohl die Antwort erscheinen: „Political variables have relatively less direct and independent impact than socio-economic variables […]. Somehow, the nature of the socio-economic environment seems more important than the nature of […] politics in shaping […] policies”. Aus Sicht der Politikwissenschaft scheint diese Erkenntnis einer Selbstdelegitimierung gleichzukommen, welche spezifische geographische Felder, wie etwa das der Wahlpolitik, in welchem die eingangs erwähnte Frage ursprünglich erhoben wurde, am besten gleich der Wahlgeographie beziehungsweise entsprechend anderen Feldern der Geographie überlässt.Setzt man sich näher mit dem infrage stehenden Sachverhalt auseinander, wird – wenig überraschend – schnell deutlich, dass die Frage nach der Relevanz der Politik und somit auch der Politikwissenschaft keineswegs mit einem so klaren Nein beantwortet werden kann, wie im oben angesprochenen Beitrag suggeriert. Methodologische Fehler und ein allzu blindes Vertrauen in unreflektiert verwandte quantitative Analyseansätze trugen maßgeblich zu jener Fehldeutung bei; die Bedeutung politischer Faktoren wurde tatsächlich – und ebenso wenig überraschend – von zahlreichen anderen Studien bestätigt (Tylor/Flint 2000: 294f.). Dennoch ist das Verhältnis zwischen den beiden Fächern nicht immer frei von Spannungen – obgleich, oder vielleicht gerade weil bestimmte Bereiche der Politikwissenschaft und der (Politischen) Geographie sich mit weitgehend denselben Sachverhalten befassen, von Dynamiken des Nationalismus (auf Seiten der Geographie etwa Johnston et al. 1988) bis hin zum Phänomen des sozialen Wandels (auf Seiten der Geographie etwa Painter 1995). „Living Together Separately“ nennt Alexander B. Murphy (1999) in seinem gleichnamigen in der renommierten Fachzeitschrift Political Geography erschienenen Aufsatz dieses Phänomen und führt es dahingehend aus, dass „[m]embers of both disciplinary communities seek insights into the role of politics and political structures in human society, yet until recently they have pursued their work within orbits that only rarely intersected” (Murphy 1999: 887).

Dies ist umso erstaunlicher, da gerade auf dem Gebiet der Politikwissenschaften durchaus die Bereitschaft zur inter- und transdisziplinären Arbeit erkennbar ist – und das nicht nur mit Blick auf die klassischen Bereiche Rechtswissenschaft und (Politische) Ökonomie, welche ja gemeinsam mit der Politologie den Kernbestand der Staatswissenschaften ausmachen, oder mit Blick auf die artverwandten Disziplinen Geschichte oder Soziologie, sondern durchaus auch hinsichtlich Fächern wie Medizin oder Psychologie, was zu so bodenständigen Subdisziplinen wie Public Health und zu so innovativen Bereichen wie Neuro-Politics führen kann. Hinsichtlich der Geographie gestaltet sich dieses Verhältnis entschieden anders. Oder doch nicht?
Ziel der hier angestellten Reflexionen ist es, der Frage nachzugehen, in welchem Verhältnis Geographie und Politikwissenschaft zueinander stehen und ob sie tatsächlich in dem Maße nebeneinander oder gar gegeneinander wirken, wie behauptet, oder doch wechselseitig Synergien generieren – zumindest potenziell. Hierbei soll explizit auf die vier Raumkonzeptionen Place, Territory, Scale und Network (Jessop et al. 2008) abgezielt werden, welche als gemeinsamer Bezugsrahmen dienen sollen. Der Blickwinkel hierbei bleibt jedoch bewusst ein politologischer und nicht alle Raumkonzepte werden in extenso und gleichberechtigt diskutiert werden können.

Wie stellt sich also das Geographische, repräsentiert in Phänomenen wie Ort, Platz, Raum oder Territorium im Kontext jener Sachverhalte dar, welche in der Selbstwahrnehmung der Politikwissenschaft in die Domäne der eigenen Disziplin fallen? Hierzu zählen Staatlichkeit sowie Staats- und Regierungsformen ebenso wie inner- und intergesellschaftliche Verteilungsfragen, Aspekte wie Wahlen aber ebenso Kernbestände von politologischen Subdisziplinen wie etwa Internationale Beziehungen oder Sicherheitsstudien, zu denen die Landesverteidigung, die Sicherung von Staatsgrenzen oder die Definition der nationalen Sicherheit schlechthin zählen.

Mögen diese auch wie selbstverständlich von der Politikwissenschaft vereinnahmt werden, so zeigen sich bei näherem Hinsehen auf Theorie wie Praxis nicht nur die kaum vorhandene Trennbarkeit zwischen dem Geographischen und dem Politologischen, vielmehr wird klar, dass es sich tatsächlich um originär geographische Probleme handelt, welche durch ihre unvermeidbare Politisierung automatisch (auch) zu politikwissenschaftlichen Größen werden, deren Behandlung durch Ansätze dieser Disziplin erfolgen kann, bisweilen wohl auch erfolgen sollte oder gar erfolgen muss. Geographische Erkenntnisse erscheinen aus dieser Perspektive heraus als Variablen im politischen wie auch politikwissenschaftlichen Entscheidungsprozess, letztlich als wertvolle Hilfsgrößen des Politischen beziehungsweise Politologischen. Das soll keineswegs überheblich klingen, ist hiervon doch der eigenständige Erkenntniswert des Geographischen unberührt, der für die eigene Disziplin ein Ziel in sich selbst darstellt. Oder anders ausgedrückt: Eine geographische Antwort befriedigt eine geographische Fragestellung idealerweise vollständig aus sich heraus; eine politologische Frage kann sie notwendigerweise in der Regel nur zum Teil beantworten. Wie größere Fragestellungen der Geographie, oder spezieller, der Politischen Geographie, auch nur unter Berücksichtigung der eigenen Größen und zugleich unter Rückgriff auf Erkenntnisse der Nachbardisziplinen befriedigend beantwortet werden können. In diesem Fall mag die politologische Erkenntnis lediglich eine unter mehreren Variablen darstellen und als Hilfsgröße im geographischen Argument fungieren – rein sachlich, rein am wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn orientiert und jenseits aller fachlichen Eitelkeiten.

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